Egoistischer Tunnelblick

  • Petra Rietzler
  • NETZWERK ELTERN

Egoistischer Tunnelblick

„Es ist doch immer wieder beeindruckend, wie Menschen, die für sich selbst in Anspruch nehmen, die Dinge zu überblicken, in einen völligen Tunnelblick verfallen können“, sagt Petra Rietzler, Sprecherin des Elternnetzwerks im Verein für Gemeinschaftsschulen BW e.V. Gemeint sind die Initiator*innen und Unterstützer*innen des G9-Volksantrags, deren Aktivitäten die landesweit organisierten Gemeinschaftsschul-Eltern mit Interesse verfolgen.
„Wir haben über eine Million Kinder und Jugendliche in unseren öffentlichen Schulen im Land, davon besucht lediglich rund ein Viertel das Gymnasium – trotzdem dominiert diese Schulart jede Debatte“, wundert sich Rietzler. Dies sei umso erstaunlicher, weil z.B. die Probleme bei der Lehrkräfteversorgung in allen Schularten abseits des in vielerlei Hinsicht privilegierten Gymnasiums ungleich größer sind als an den „höheren Lehranstalten“ im Land. Mancherorten liegt die Versorgung mit Lehrkräften an SBBZ bei um die 60 Prozent – doch diese Kinder haben eben keine lautstarke Lobby.
„Machen wir uns nichts vor, der Zug in Richtung Zukunft ist in der Bildung längst abgefahren – die Gymnasien gehören zu den Schularten, die den Pfiff zur Abfahrt in weitesten Teilen verpasst haben“, erklärt Rietzler. Jetzt mit einer groß angelegten Kampagne noch mehr Ressourcen in eine Schulart zu pumpen, die ihren eigenen Leistungsanspruch schon lange nicht erfüllt, sei angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen der helle Wahnsinn, so die langjährige Elternvertreterin.
„Wir müssen das gesamte Schulsystem in den Blick nehmen, statt die anderen Schularten zugunsten einer vermeintlichen ‚bessere Leute-Welt‘ noch weiter ausbluten zu lassen“, fordert Rietzler. All denen, die sich für ein Retro-G9 in die Bresche werfen, rät Rietzler einen Blick in die internationale Bildungswelt - und ein gesundes Maß an Selbstreflexion: „Die Zeiten haben sich geändert, was für uns damals vermutlich noch der richtige Weg war, passt nicht mehr in unsere Zeit – die internationalen PISA-Sieger und die anerkannte Bildungsforschung sagen uns vehement, dass integrative, inklusive Systeme, die auf länger gemeinsames Lernen setzen, weitaus erfolgreicher sind, als die Sortierung von Kindern, die kaum den Windeln entwachsen sind.“
Sich bei der Beschäftigung mit Schule nur auf das Abitur zu fokussieren, zeuge von einer enormen Kurzsichtigkeit, kritisiert Rietzler: „ Da klagen die Leute über Fachkräftemangel, mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein Abdriften in rechtsextreme Positionen – gleichzeitig fordern sie ohne jegliche ernsthafte Beschäftigung mit dem Gesamtsystem die klare Bevorzugung einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe und das auf Kosten aller anderen.“
Für Rietzler ist die aktuelle Diskussion um die Dauer bis zum Abitur ein weiterer Beleg für das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft: „Wer G9 fordert, fühlt sich auf der Gewinnerseite unseres Bildungssystems und schert sich nicht um alle anderen – das ist kurzsichtig und egoistisch. Spätestens wenn die eigenen Kinder plötzlich doch nicht mehr reibungslos im Strom mitschwimmen, werden die Beteiligten diese Haltung überdenken – doch dann ist es für uns alle wahrscheinlich zu spät!“

Petra Rietzler
Sprecherin Elternnetzwerk im Verein für Gemeinschaftsschulen BW e.V.

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