Hoffnungslos überfordert

  • Matthias Wagner-Uhl
  • NETZWERK POLITIK

Hoffnungslos überfordert

Hoffnungslos überfordert

Wir leben in einer bunten Gesellschaft, in der Individualität groß geschrieben wird. Und doch hat der Glaube Bestand, man könne Kinder ideal auf die Zukunft vorbereiten, wenn man sie in drei vorgefertigte Schubladen steckt. Als Argument muss nicht die Leistungsfähigkeit der Kinder, sondern die Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer herhalten: Sie sehen sich an den Realschulen hoffnungslos überfordert. Da stellt sich die Frage: Was ist da denn los?

„Wenn ich den Worten von Frau Broszat, Vorsitzende des Realschullehrerverbandes BW, Glauben schenken würde, müsste ich davon ausgehen, dass viele Lehrerinnen und Lehrer an Baden-Württembergs Realschulen in ihrem Beruf als Pädagoginnen und Pädagogen kläglich versagen“, sagt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt die Interessensvertretung der Gemeinschaftsschulen im Südwesten die lauter werdenden Klagen über Schulempfehlungen, Elternwille und das offensichtliche Versagen mancher Realschulen.

Dort kämpft man verbissen gegen jene Kinder, die sich mit der Option auf einen Hauptschulabschluss für die Realschule entschieden haben. „Viele Realschul-Kollegien wollen der Öffentlichkeit weismachen, dass ein Unterrichten auf zwei Leistungsniveaus in einer Klasse unmöglich ist – da fragt man sich ja, wie das die vielen Tausend Lehrerinnen und Lehrer an der Gemeinschaftsschule BW hinbekommen“, sinniert Wagner-Uhl. Dort lernen Schülerinnen und Schüler auf drei Niveaustufen miteinander, häufig flankiert von Kindern mit inklusiver Beschulung. In den Grundschulen gehört der gelingende Umgang mit Diversität ebenfalls zum Tagesgeschäft, genau wie an zahlreichen anderen Schulen im Land, die diesbezüglich mit der Zeit Schritt gehalten haben.

Für Wagner-Uhl lassen die Klagen jener Realschul-Kolleginnen und Kollegen nur einen Schluss zu: „Da sind gelernte Pädagoginnen und Pädagogen sehr weit weg von ihrer beruflichen Qualifikation und ihrer professionellen Qualität – denn letztlich erfolgt in jeder Klasse völlig unabhängig von der Schulart eine individualisierte Betrachtung der Kinder“. Wer hier die Segel streicht, gebe eine pädagogische Bankrotterklärung ab.

So wie diese Realschul-Szene ihres Klagens nicht müde wird, pocht Wagner-Uhl auf das Lob der Gemeinschaftsschul-Kollegien im Land: „Dort wird gezeigt, dass binnendifferenziertes Arbeiten selbstverständlich möglich ist – vorausgesetzt der Wille der beteiligten Lehrkräfte ist da“. Die Realität an den Schulen gehe sogar weiter: Dies gelingt selbst, wenn die politisch Verantwortlichen die notwendigen Rahmenbedingungen immer weiter erschweren. Dass in der Öffentlichkeit ein anderes Bild gezeichnet wird, habe nicht zuletzt mit Komfortzonen und dem Sehnen nach längst vergangenen Zeiten zu tun, so Wagner-Uhl: „Wer vor einer sich immer schneller verändernden Zukunft die Augen verschließt, vergibt die Chance, das Leben zu gestalten - und Baden-Württemberg als Wirtschafts- und Innovationsstandort weiter in der ersten Liga zu halten.“

Die Augen wiederum öffnen muss die Bildungspolitik im Südwesten endlich vor der Conclusio, die sich aus den Klagen der Realschul-Szene ergibt: „Wenn die Realschule den Realitäten einer hoch-diversen Schülerschaft nicht gerecht werden kann, wird es Zeit, sich von dieser Schulart zu verabschieden“, sagt der Vereinsvorsitzende. Das Konzept der Gemeinschaftsschule – orientiert am Deutschen Schulpreis – sieht die oft beklagte Heterogenität als Bereicherung durch längeres gemeinsames Lernen. Die Ergebnisse der ersten Realschulabschlüsse an den Gemeinschaftsschulen BW unterstreichen die Leistungsfähigkeit dieser Schulart. Tatsächlich ist es an der Zeit, an den Realschulen in Baden-Württemberg, zumindest an jenen, die in das Klagelied einstimmen, die Reißleine zu ziehen.

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