Augenwischerei statt Krisenmanagement

  • Matthias Wagner-Uhl
  • NETZWERK POLITIK

Augenwischerei statt Krisenmanagement

Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Landespresse,

die Aktualisierung der Corona-Verordnung Schule durch das Kultusministerium bedeutet de facto die endgültige Ausrufung des Ausnahmezustands an den Schulen im Land. Es wird Zeit, endlich den Tatsachen ins Auge zu schauen und die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit die Schulen und deren Akteure nicht als Kollateralschaden der Pandemie in die Geschichte eingehen.


Angleichung von Prüfungen statt Absicherung der grundsätzlichen Rahmenbedingungen von Schule. Die Kultusministerkonferenz und mit ihr Bildungsministerin Susanne Eisenmann haben immer noch nicht begriffen, wo die Prioritäten in der Schulwelt zurzeit liegen müssen. Leidtragende sind 1,5 Millionen Kinder und Jugendlichen im Südwesten, deren Schulen eine noch nie dagewesene Belastungsprobe erleben. 

Wer für das, was an den Schulen im Land läuft, immer noch das Wort vom „Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen“ führt, macht sich spätestens seit heute wissentlicher Irreführung schuldig. Und er diskreditiert die Anstrengung von Schulleitungen und Lehrenden, die in den letzten Wochen unter Auferbietung aller Kräfte versucht haben, unter erbärmlichen Rahmenbedingungen den Schulbetrieb an den rund 4.500 Schulen in Baden-Württemberg aufrecht zu erhalten. Vor allem aber verhöhnt das Bild eines „Regelbetriebs“ jene 1,5 Millionen Schülerinnen und Schüler, deren Zukunft am seidenen Faden einer Schule@Corona hängt, zu deren Gelingen die politisch Verantwortlichen im Südwesten nur wenig beizutragen haben.

„Zu suggerieren, es gäbe in diesen Tagen so etwas wie einen ‚Regelbetrieb‘ zeugt entweder von massiven Desinteresse oder einer Ignoranz, deren Ausmaß beeindruckend ist“, sagt auch Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V. Er weiß: „Die meisten Schulen und deren Leitungsteams stecken alle Energie in etwas, was man einfach nur noch als Chaos-Management bezeichnen kann!“ 

Die Pandemie-Stufe 3 erwischt Baden-Württembergs Schulsystem mitten in einer Dreifach-Krise: Schon vor Corona gefährdeten ein eklatanter Lehrkräfte-Mangel sowie die verschleppte digitale Transformation des Bildungswesens bereits die Qualität der Schulausbildung von Millionen baden-württembergischen Schülerinnen und Schülern. Über den ohnehin bestehenden Lehrermangel legt sich an vielen Schulen jetzt eine Decke von Krankmeldungen, Quarantänezeiten und Abwesenheit aufgrund von Risikodispositionen.

„An einen regulären Betrieb ist vielerorts nicht zu denken, die ständige Adaption von Planungen an neue Vorgaben und veränderte Vor-Ort-Gegebenheiten zermürben die Beteiligten, was sonst typischerweise zum täglichen Geschäft gehört, liegt brach – so ist Schule nicht zu machen“, sagt der erfahrene Schulleiter. Was sich auf dem Papier geschmeidig liest, sei in der Praxis nicht umzusetzen: „Unsere Kollegien haben Präsenzunterricht zu leisten, müssen einzelnen Schüler:innen eine Schule@Home anbieten und immer mehr Jugendlichen, die in Klärungs- oder Quarantäne-Zeiten sind, ins Schulgeschehen integrieren – wie soll das funktionieren, wenn dafür sowohl die personellen Ressourcen, als auch häufig die technische Ausstattung fehlt?“

Dass die Kultusministerkonferenz mitten in der Pandemie die Absicht, Prüfungen bundesweit anzupassen, als Erfolg feiert, empfinden viele Eltern als zusätzlichen Hohn: „Wir können über vergleichbare Prüfungen sprechen, wenn die Bedingungen von Schule bundesweit identisch sind, also wenn Klassenteiler, Bildungspläne, Lehrerversorgung, formale Qualifikationen, Schulformen, multiprofessionelle Unterstützungssysteme, eingesetztes Material, technische Ausstattung, verfügbare Räume und, und, und.. ansatzweise ähnlich sind“, sagt Dr. Ulrike Felger, Sprecherin des Elternnetzwerks im Gemeinschaftsschul-Verein.

Bei jedem der genannten Punkte sehen die vernetzten Eltern Handlungsbedarf. Doch in diesem Moment gehe es nur um eines: dafür zu sorgen, dass die Absolvent:innen des Schuljahres 2020/21 überhaupt auf ihre Prüfungen vorbereitet werden. „Statt sich ehrlich zu machen und die Anforderungen dieses erneuten Schuljahres@Corona und der anstehenden Prüfungen an die Pandemie-Situation anzupassen, gaukelt die Kultusministerin den Menschen im Land weiter vor, die Schulen würden in irgendeiner Form ‚regulär‘ funktionieren“, ärgert sich die Elternnetzwerksprecherin.

Sicher ist: Das deutsche Schulsystem ist marode. Das gilt auch für weite Teile der Schulwelt im Südwesten. „Wenn sich die Verantwortlichen mit den Eckpunkten einer zukunftsfähigen Schule des 21. Jahrhunderts befasst hätten bevor ein Fünftel dieses Jahrhunderts vorbei ist, und auf hehre Worte auch mutige Taten gefolgt wären, würden unsere Kinder und ihre Schulen die Pandemie heute ohne tägliche Ängste und einem Zustand absoluter Überforderung meistern“, resümiert Vereinsvorsitzender Wagner-Uhl. Die Gemeinschaftsschulen sind vielen anderen hier zum Glück ein Stück in Richtung Zukunft voraus: „Wir Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg zeigen gerade jetzt jeden Tag aufs Neue, wie sich eine zukunftsorientierte Schule für alle auch in der Krise bewährt“.

Search