Schule nach dem Aschenputtel-Prinzip

  • Matthias Wagner-Uhl
  • NETZWERK POLITIK

Schule nach dem Aschenputtel-Prinzip

04.03.2020

Sport und Bewegung kommen bei Kindern heutzutage oft zu kurz. Das Kultusministerium will nun offensichtlich Abhilfe schaffen. Es schickt die Grundschulkinder im Südwesten künftig in einen Hürden-Marathon mit drei Testverfahren über vier Schuljahre.
Lernstand 2, VERA 3 und bald schon zentrale Orientierungsarbeit in Klasse 4 - ein breites Repertoire an Messverfahren soll über Wohl und Wehe unserer baden-württembergischen GrundschülerInnen urteilen. Den Bezugsrahmen für die Einordnung der Ergebnisse, über Sieg oder Niederlage, liefert vermutlich die Altersgruppe. Der individuelle Lern- und Entwicklungsfortschritt des einzelnen Kindes wird damit zur Nebensache. Die Regeln der Individualisierung als Treiber unserer modernen Gesellschaft greifen offenbar erst später - im echten Leben. Also nach der Schulzeit.

Wissen ohne Wissenschaft
Der Wahn, menschliche Entwicklung in Zahlen zu pressen und damit vermeintlich handhabbar und steuerbar zu machen, treibt im Bildungsgeschehen des Südwestens immer wieder neue Blüten. Zugleich werden im Kultusministerium sowohl die moderne Bildungsforschung, als auch Neurobiologie, Motivationsforschung, Kinderpsychologie oder Erkenntnisse der Persönlichkeitsentwicklung hartnäckig ignoriert.
Das lässt nur einen Schluss zu: Es geht nicht um die Entwicklung unserer Kinder. Es geht auch nicht um die Entwicklung unseres Landes. Es geht darum, bestehende Weltbilder zu verteidigen. Es geht darum, existierende Pfründe zu sichern. Und es geht darum, nach dem Aschenputtel-Prinzip Menschen auseinander zu sortieren. Denn: Was fangen Eltern, Lehrkräfte und Lernende mit den Ergebnissen immer wieder neuer Vergleichsarbeiten an? Mit Erkenntnissen, die aufmerksamen PädagogInnen im Regelfall aus alltäglichen Unterrichtsbeobachtungen ohnehin zur Verfügung stehen?

Vom Messen wird die Sau nicht fett
Der Nutzen der Implementierung neuer Testverfahren geht gegen Null, solange die Resultate nicht in ein feingliedriges System von zielgerichteter Förderung münden. So, wie es uns erfolgreiche Bildungsnationen wie Schweden oder Kanada schon lange vormachen. Mit klar ausgewiesenen Mindeststandards, mit mehr LehrerInnen, flexiblen Lerngruppen, multiprofessionellen Teams, adäquaten und wissenschaftlich fundierten Förderprogrammen, hochwertigen Aus- und Fortbildungsangeboten – gerade auch für Grundschul-Lehrkräfte mit dem Fokus Diversität. Mit der ganzen Palette wissenschaftlicher Erkenntnisse rund um die Entwicklung von Menschen.
Doch: Darum geht es nicht. Das Denken deutscher BildungspolitikerInnen vom Schlage Eisenmann & Co. wird bestimmt von einem mechanistischen Weltbild: Es geht ums Einordnen, Aussortieren, Wegschieben. Getrieben von dem Wahn, dass Druck im 21. Jahrhundert immer noch der zentrale Stellhebel ist, um Menschen zum „funktionieren“ zu bringen.
Der aktuelle Vorstoß aus des konservativ regierten Kultusministeriums entlarvt vor allem eines: Eine CDU-Spitzenkandidatin mit einem erschreckenden Menschenverständnis von vorgestern, das die Anforderungen der Zukunft in sträflicher Weise negiert. Und das das gefährliche Auseinanderdriften unserer Gesellschaft nicht nur billigend in Kauf nimmt, sondern bewusst befördert.
Und ein ausgeprägtes Desinteresse am Wohl und Wehe der Kinder in unserem Land.

Mathias Wagner-Uhl, 1. Vorsitzender 

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