Die Illusion des alten Trotts

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Die Illusion des alten Trotts

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Die Illusion des alten Trotts

Ein Jahr Schule@Corona mit einer Kultusministerin ohne Konzept und ohne Gespür für Menschen und deren Bedürfnisse haben an den Schulgemeinschaften im Südwesten gezehrt. Dass nun der Ministerpräsident auf die Schulen schaut, dass er sich für die Verfassung der Beteiligten interessiert und eine konstruktive Beschäftigung mit notwendigen nächsten und übernächsten Schritten andeutet, lässt die Schulwelt hoffen.

„Es ist wirklich ein Segen, dass Ministerpräsident Kretschmann die psychische Situation der Kinder und Jugendlichen im Land in den Blick nimmt und dabei über die Plattitüden seiner Kollegin im Kultusministerium weit hinaus geht“, erklärt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen Baden-Württemberg e.V. Mit seinen aktuellen Denkanstößen habe Kretschmann einen ersten wichtigen Schritt getan, um sich ernsthaft und tiefgängig mit der momentanen Lebenssituation der jungen Baden-Württemberger:innen zu befassen.

Denn: „Es geht genau nicht darum, Schule wieder möglichst schnell zu öffnen und dann so zu tun, als ob nun wieder alles beim Alten wäre“, ermahnt Wagner-Uhl die Verantwortlichen in der Politik, Dinge gründlich zu durchdenken und sich nicht mit vermeintlich einfachen Lösungen zufriedenzugeben. Das Bild vom „Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen“ sei eine Illusion, erschaffen und am Leben erhalten von einer Kultusministerin, die den originären Aufgaben ihres Amtes schon lange vor der Pandemie nicht nachgekommen ist.

Der Interessensvertreter der Gemeinschaftsschulen appelliert, die Krise als Zäsur und als Chance zu sehen: „So wie es zurzeit keinen Regelbetrieb gibt, müssen wir uns für die Zukunft generell von der Idee eines ‚Regelbetriebs‘ verabschieden“, sagt Wagner-Uhl. Die Lernkurve der meisten Schulen seit Ausbrechen der Pandemie ist steil – und sie bietet enorme Möglichkeiten, um den Anschluss an die Bildungsanforderungen des 21. Jahrhunderts zu finden: „In der Schule@Corona haben wir geübt, über den Präsenzbetrieb hinaus professionell zu agieren, zu differenzieren, individualisierten Unterricht auf Distanz zu machen, auch unter schwierigen Bedingungen adäquat mit Verschiedenheit umzugehen und unsere Schüler:innen zu fördern und zu fordern – alles Dinge, die zu einem modernen Schulbetrieb dazu gehören.“

Die gewonnenen Erfahrungen müssten nun dringend und in der Breite Eingang in die Schulpraxis finden: „Es wäre schade, wenn dieses Potenzial zukünftig brach läge“, sagt der Vereinsvorsitzende. Genutzt werden könnten die Erkenntnisse auch, um Schüler:innen, die unter den Corona-Bedingungen den Anschluss verloren haben, sukzessive wieder an das Lerngeschehen heranzuführen. „An dieser Stelle ist es passgenau und notwendig, dass der Ministerpräsident besondere Formen der Nachhilfe und individuellen Unterstützung anspricht, die über die üblichen Settings hinaus andere Professionsgruppen einbindet und Inhalte auch jenseits des reinen Paukens vermitteln“, erklärt Wagner-Uhl.

Aus Sicht des Pädagogen ein wichtiger Schritt: „Damit erkennt die politische Spitze des Landes an, dass Schule sich grundlegend wandeln muss.“ Und dann könnte Schul-Zeit intelligent, flexibel und nicht zuletzt effizient so gestaltet werden, dass Lern- und Unterstützungsangebote im Alltagsbetrieb ihren Platz finden. „Lernen gehört vom Grundsatz in die Schul-Zeit und letztlich in die Verantwortung von uns Lehrenden, das dürfen, wollen und werden wir nicht abgeben – wie das genau aussehen kann, zeigen uns weltweit erfolgreiche Bildungsnationen“, sagt Wagner-Uhl. Orientierungslinien bieten hier nicht zuletzt auch die Gemeinschaftsschulen, die trotz begrenzter Ressourcen und unter widrigen Bedingungen vieles davon bereits gut umgesetzt haben.

Als wichtige Leitplanke für die Begleitung der Schüler:innen mit über einem Jahr Schule@Corona im Gepäck sieht Wagner-Uhl ein politisches Bekenntnis zu klaren Mindeststandards: „Wenn wir uns hier ein verbindliches Ziel setzen, das möglichst viele Lernende erreichen sollen, liegen die resultierenden Notwendigkeiten auf der Hand – dann muss nicht immer wieder diskutiert werden, ob wir uns die Weiterentwicklung unserer Schulen leisten können oder wollen. Kanada macht uns vor, wie das geht“, sagt Wagner-Uhl. Nicht zuletzt erlaubt dieser Ansatz eine maximale Wertschöpfung, gesellschaftlich und individuell. Ergänzt werde dies von einer wichtigen Wirkung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt: „Mit einer solchen Haltung machen wir klar, dass uns und unserem Bildungssystem jedes Kind gleich wichtig und wertvoll ist!“

Exkurs „Schulöffnung“

Nur mit Tests und Maske

Der Verein für Gemeinschaftsschulen BW e.V. fordert die Verantwortlichen in der Landespolitik auf, einer Wiederaufnahme des Präsenz- bzw. Wechselbetriebs an den Schulen erst zuzustimmen, wenn an allen Schulstandorten ein umsetzbares und wirksames Testkonzept installiert ist.

„Wir halten es für unverzichtbar, dass die Öffnung von Schulhäusern an die verbindliche Umsetzung von realistischen Test-Szenarien geknüpft ist – von diesem ‚Mal anfangen und dann weitersehen‘ haben die Menschen an den Schulen endgültig die Nase voll“, sagt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW e.V. Er erwartet, dass geeignete Test-Kits oder z. B. Spucktest wie in anderen Ländern erprobt, zeitnah an den Schulen eingesetzt werden: „Es kann doch nicht sein, dass es wieder wie so oft im System Schule davon abhängt, wo jemand lebt und  gute Lösungen dem Engagement einzelner Personen geschuldet sind“.

Wenn die Kultusministerin wenige Tage vor der Landtagswahl Schulöffnungen fordert, muss sie selbst in die Verantwortung gehen und die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen, so der Vereinsvorsitzende. „Hier den Schwarzen Peter einem anderen Ressort zuzuspielen, ist verantwortungslos und zeigt ihr Desinteresse an den Menschen an unseren Schulen“, rügt Wagner-Uhl.

Auch die Eltern sind besorgt. Angesichts der zunehmenden Impf-Rate bei Lehrer:innen und die damit ausbleibenden Schnelltests werde ohne flächendeckendes Testkonzept für Schüler:innen die Infektionsgefahr rücksichtslos auf die Eltern abgewälzt: „Es ist inakzeptabel, wenn Corona-Ausbrüche an Schulen erst durch schwere Erkrankungen der Eltern aufgedeckt werden können“, sagt dazu Dr. Ulrike Felger, Sprecherin des Elternnetzwerks im Gemeinschaftsschul-Verein. 

Zitate Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender Verein für Gemeinschaftsschulen BW e.V.

„Es geht genau nicht darum, Schule wieder möglichst schnell zu öffnen und dann so zu tun, als ob nun wieder alles beim Alten wäre.“

„So wie es zurzeit keinen Regelbetrieb gibt, müssen wir uns für die Zukunft generell von der Idee eines ‚Regelbetriebs‘ verabschieden.“

Von diesem ‚Mal anfangen und dann weitersehen‘ haben die Menschen an den Schulen endgültig die Nase voll.“

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